NICOLE MAHAL

HANNIS INVESTITION

 

Der Schalterbeamte hat noch den Schlaf in den Augen und schon Schweißperlen auf der Stirn. “Ein Jahrhundertsommer” haben sie gestern in den Nachrichten gesagt. Da haben sie Recht. Für mich ist das ein Jahrhundertsommer.
Vor mir steht ein elegant angezogener Mann, der mir bekannt vorkommt. Ich sehe ihn nur von hinten, weil er so steif da steht und sich nicht bewegt. Es ist ruhig am Südbahnhof, alle sind noch müde oder schon erschlagen von der morgendlichen Hitze. Mir macht das alles nichts aus. Fünfzehn Jahre Backstube härten ab.
Charly wird ausflippen, wenn er draufkommt, dass ich weg bin. Wenn er nicht ganz blöd ist, dann ist er schon ausgeflippt. Schließlich bin ich seit einer halben Stunde weg. Wenn ich mir vorstelle, dass er in der Backstube auf- und abrennt und Hanni! Hanni! schreit – das würde ich jetzt gern sehen. Eigentlich wollte ich ja nur wie immer die Morgenzeitung von Herrn Bednar holen und dann das Geschäft aufsperren, aber der Bednar hat zu gehabt. Über all die Jahre war der außer Sonn- und Feiertagen immer in der Trafik, aber heute bin ich vor verschlossenen Türen gestanden. Und da habe ich mir gedacht: heute mache ich es. Heute nehme ich den Zug. Noch vier Leute vor mir, dann sage ich, wovon ich jahrelang geträumt habe.
Aus dem Koffer, der zwischen den Beinen des eleganten Mannes steht, der mir so bekannt vorkommt, brummt es. Die Frau, die vor ihm steht, hat es auch gehört. Sie dreht sich um und deutet mit dem Kopf auf den Koffer.
“Sagen Sie, haben Sie Ihre Zahnbürste nicht ausgeschaltet?”, fragt sie.
Der elegante Mann sagt nichts, aber ich sehe von hinten, dass seine Ohren rot werden.
“Das sind die Errungenschaften der Technik”, sagt die Frau zu dem fetten Mann, der vor ihr steht und sich umgedreht hat. “Eine Zahnbürste, die sich selbständig macht. Wenn er sie nicht bald abdreht, dann werden die Batterien leer sein, wenn er sie braucht.”
“Ich arbeite am Meldeamt und was glauben Sie, was wir dort für Probleme haben seit der Computerumstellung”, sagt der fette Mann. “Das System macht sich auch oft selbständig und dann: habe die Ehre.”
Mein Zug geht um 6:30. Seit Juni 99 erkundige ich mich jede Woche nach dem Zug nach Termoli und der fährt immer um die gleiche Uhrzeit weg. Damals, im Juni 99, ist Andrea nach Termoli gezogen und ich habe ihr versprochen, irgendwann nachzukommen. Es gibt dort, hat mir Andrea gemailt, ein Restaurant am höchsten Punkt der Stadt gleich neben der Kirche. Von dort aus kann man beim Essen auf das Meer hinunterschauen.
Ich habe zwar noch eine Viertelstunde Zeit, aber ich muss dann erst das Gleis finden, von dem mein Zug abfährt. Ich kenne mich am Südbahnhof nicht aus. Nur am Westbahnhof, weil ich von dort aus manchmal nach Gmunden gefahren bin, als meine Tante noch gelebt hat, aber das ist schon wieder sieben Jahre her. Seitdem war ich überhaupt nirgendwo mehr, weil Charly immer gieriger geworden ist im Laufe der Jahre und das Geschäft überhaupt nicht mehr zusperren wollte.
“Jetzt stellen Sie doch bitte endlich das Brummen ab”, sagt die Frau, “das hält ja kein Mensch aus. Schalten Sie um Himmels Willen die Zahnbürste ab.”
“Es wird Ihnen schon niemand ihren Pyjama stehlen, wenn Sie den Koffer kurz aufmachen”, sagt der fette Mann zu dem eleganten.
Der elegante Mann sagt immer noch nichts, aber er schüttelt langsam den Kopf und da sehe ich ihn im Viertelprofil. Und jetzt erkenne ich ihn auch: Das ist ja Herr Bednar von der Trafik! Was macht denn der da? Hoffentlich dreht er sich jetzt nicht um und sieht mich. Ich muss mir was Gescheites einfallen lassen, wenn er mich fragt, was ich um die Zeit am Bahnhof mache vor dem Auslandsschalter mit einer großen Umhängetasche.
Herr Bednar ist schwul, das weiß ich, seit ich ihn mit seinem halbitalienischen Cousin vor der Trafik schmusen gesehen habe. Damals bin ich drauf gekommen, dass dieser Cousin, mit dem Herr Bednar so viel Zeit verbracht hat und sogar auf Urlaub gefahren ist, gar nicht sein Cousin ist. Jetzt habe ich diesen Doch-Nicht-Cousin schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Vielleicht ist Herr Bednar deswegen so niedergeschlagen in letzter Zeit.
Dass der da jetzt ausgerechnet, wenn ich, also, dass der da vor mir in der Schlange steht, ist das ein schlechtes Zeichen? Ganz ruhig, Hanni, verhalte dich unauffällig, zieh deine Sache durch, du bist sehr mutig, kein Rückzieher jetzt.
“Ist das eine Affenhitze”, sagt der dicke Mann, “so heiß war es überhaupt noch nie.”
“Sagen Sie,”, sagt die Frau zu Herrn Bednar, “ist das vielleicht überhaupt keine Zahnbürste in Ihrem Koffer, sondern ein kleiner Handventilator, den Sie vor uns verstecken?”
“Was haben Sie gesagt?”, fragt der fette Mann die Frau, “Der hat einen Handvibrator da drinnen? Jetzt hören Sie aber auf! Deswegen ist mir so heiß! Ein Warmer steht in der Schlange!”
In dem Moment bückt sich Herr Bednar zu seinem Koffer, hebt ihn hoch und geht. Ich glaube, er hat mich bemerkt, als er sich an mir vorbeigedrängt hat. Gegrüßt hat er mich nicht. Aber was soll er jetzt machen? Charly anrufen und ihm verraten, dass ich hier bin? Jetzt sind nur noch der fette Mann und die Frau vor mir. Ich habe noch neuneinhalb Minuten.
Charly rennt wahrscheinlich gerade Amok. Vielleicht schmeißt er sogar Brote und Weckerl herum. Jähzornig ist er ja. Aber nach einiger Zeit wird er sich zusam-menreißen und die Ware hinauf ins Geschäft bringen und schön einsortieren und aufsperren, weil ihm ja sonst ein Kunde durch die Lappen gehen könnte. Er wird sie alle freundlich begrüßen und sie werden fragen: Wo ist denn die Gattin heute? Und er wird sagen, die ist indisponiert, und die Leute werden lachen, weil sie ihn so witzig finden, wenn er gekünstelt redet. Innerlich wird er beben vor Wut, dass ich weg bin. Aber ich will einfach nicht mehr. Fünfzehn Jahre Backstube und eineinhalb Jahre Nebenbuhlerin sind genug.
“Du verlässt mich nie”, hat mir Charly noch vor ein paar Tagen ins Gesicht gelacht, als ich ihm ein Ultimatum gestellt habe: sie oder ich. Jetzt kann er schauen, wie er ohne mich zurecht kommt. Als wäre es mein Traum gewesen, ein Leben als Bäckerin zu führen. Immer früh schlafen gehen und früh aufstehen, backen und im Geschäft stehen, in der Mittagspause alle Erledigungen machen müssen – und dann komme ich vor zwei Monaten früher vom Einkaufen zurück und finde Charly, wie er im Abstellraum neben dem Geschäft eine unserer Kundinnen vögelt. Das geht zwischen den beiden schon eineinhalb Jahre so, sagt er, aber von mir scheiden lassen will er sich nicht, und ich weiß auch genau, warum. Weil er weiß, dass die Hälfte unseres Vermögens mir zusteht. Das Geschäft geht hervorragend und außerdem sind wir nie dazu gekommen, das Geld, das wir verdient haben, auszugeben, da hat sich eine Menge angesammelt. Allein das Schwarzgeld, das wir im Wandtresor hinter dem gerahmten Dalì-Kalenderblatt gesammelt haben. Das verliert an Wert, habe ich zu Charly gesagt. Wir müssen das Schwarzgeld investieren! Aber Charly hat sich geweigert. Er wollte es zuerst auch nicht in Euro umtauschen, aber da habe ich mich durchgesetzt und bin x-mal in den Mittagspausen durch ganz Wien gefahren und habe so kleinweise fast eine Millionen Schilling in Euro wechseln lassen. Unser Tresor war schon fast wertvoller als unsere Wohnung.
Der fette Mann ist endlich abgefertigt worden und die Frau kommt drauf, dass sie am Auslands-Ticket-Schalter steht, als sie eine Karte nach Graz lösen will. Sie regt sich auf, dass ihr das niemand vorher gesagt hat.
Der Schalterbeamte schwitzt auch stark unter den Achseln, da kann man froh sein, dass er hinter einer Glasscheibe sitzt. Wahrscheinlich stinkt er. Hinter dem Mann hängt eine Wanduhr, die 6:25 zeigt. Noch fünf Minuten. Hoffentlich ist der Bahnsteig nicht weit weg.
“Bitte schön?”, fragt der Schalterbeamte.
“Einmal nach Termoli, bitte.”
“Für heute? Da hätten Sie reservieren müssen, gnädige Frau.”
“Ist kein Platz mehr frei?” Ich fange an zu schwitzen.
“Gnädige Frau, nach Termoli bitte nur mit Reservierung.”
“Dann schauen Sie doch bitte, ob nicht noch ein Platz frei ist. Der Zug fährt in viereinhalb Minuten ab!”
“Das wird er, gnädige Frau, aber ohne Sie. Kann ich noch etwas für Sie tun?”
“Jetzt stellen Sie mir ein Ticket aus! Ich will den Zug erwischen!”
“Wie oft wollen Sie es noch hören? Es gibt kein Ticket mehr nach Termoli.”
“Hören Sie, ich setze mich auch in den Gepäckwagen, wenn es sein muss, das ist mir egal.” Ich fange gleich an zu heulen. Meine Knie zittern, bitte nicht, ich will nicht, dass mich jetzt der Mut verlässt, ich muss das jetzt schaffen, ich trau mich das kein zweites Mal.
“Gnädige Frau, darf ich Sie bitten, auf die Seite zu treten, es warten noch andere Leute.”
“Was ist mit der ersten Klasse?”, fällt mir ein, “Ist die auch schon besetzt?”
“Warum sagen Sie das nicht gleich? Aber der 6:30-Zug wird sich trotzdem nicht mehr ausgehen. Der fährt in vier Minuten.”
“Das schaffe ich”, sage ich, “und jetzt pronto!”
Er tippt auf der Tastatur herum und fragt, ob einfach oder hin und retour, und ich sage einfach.
“Einfach Termoli erste Klasse, Bahnsteig 11, umsteigen 14:44 Venedig, 16:56 Bologna, bitte sehr, macht 156,60”, sagt er so, wie ich jeden Tag zig-mal “ein halbes Roggen, drei Semmel, ein Liter Milch”, sage. Ich zahle und renne los. Noch drei Minuten.
Die Tasche ist schwer und ich muss sie fest an mich gedrückt halten, damit sie nicht hin- und herschlenkert. Ich nehme das Förderband in den ersten Stock, laufe ein paar Schritte und dann gehe ich wieder, weil mir die Luft ausgeht. Auf Bahnsteig 11 wartet mein Zug auf mich, der bringt mich nach Termoli zu Andrea, die erst letzte Woche wieder gemailt hat, dass ich doch endlich kommen soll. Sie schreibt das wöchentlich seit sechs Jahren, aber ich glaube, sie hat nie ernsthaft damit gerechnet, dass ich es wirklich tue.
Jetzt fährt gleich mein Zug ab. Wo ist der Bahnsteig 11, ah, da drüben, da wird schon “einsteigen” durchgesagt, jetzt schnell, die letzten Reserven aktivieren, lauf, sonst ist alles vorbei, ich möchte “warten Sie!” schreien, aber dazu fehlt mir die Luft und es würde ohnehin nichts nützen, da ist schon der Einstieg, der ist noch offen, die Tasche ist so schwer und die Treppe so hoch, aber ich schaff das, ich schaff das, zuerst die Tasche hinein, so, und jetzt muss ich nur einen Fuß auf diese Stufe setzen, wieso hab ich nur diese blöden Schuhe angezogen mit dem Absatz, in dieser Hitze und das Rennen und jetzt diese steile Stufe, aber jetzt, ein Fuß oben, jetzt kann der Zug nicht mehr ohne mich abfahren, die Hälfte von mir ist schon fast in Termoli, und zweiter Fuß, gut gemacht, Hanni, der Schaffner pfeift. Der Zug fährt ab. Ich habe es geschafft.
Ich muss nach vor gehen zum 1. Klasse-Waggon, das fühlt sich gut an, weil ich nicht nur still sitze Richtung Italien, sondern zusätzlich im Zug Richtung Italien gehe. Achtung Termoli, ich komme!
Da ist mein Abteil, da sitzt noch niemand drinnen, da werde ich es mir gemütlich machen. Erst einmal die Schuhe ausziehen und den Rock, ich muss mich auslüften. Das ganze scheußliche Zeug würde ich am liebsten sofort wegschmeißen. In Termoli kaufe ich mir dann Sommerkleider und einen Bikini und neue Schuhe. Endlich wieder mit Andrea die Geschäfte unsicher machen!
Wenn ich daran denke, dass Charly in der Mittagspause in die Wohnung hinauf rennen wird und den offenen leeren Safe vorfindet – das wird er nicht fassen, dass ich dazu fähig war. Er traut mir einfach gar nichts zu.
Die Türe vom Abteil geht auf, gerade als ich ohne Rock dastehe und in die Tasche voller Hundert-Euro-Scheine schnuppere, weil ich mich freue, dass ich die beste Investitionsmöglichkeit für das Schwarzgeld gefunden habe. Um die Scheidung und den Rest meines Geldes werde ich mich von Italien aus kümmern.
Herr Bednar sagt “Oh, Entschuldigung”, und will schon wieder hinausgehen, aber ich sage: “Bleiben Sie nur. Hier ist doch genug Platz für uns beide.”
Herr Bednar nickt und legt seinen brummenden Koffer auf den Sitz. Ich hoffe, er schaltet das Gerät jetzt nicht aus. Man soll nicht stoppen, was sich selbständig gemacht hat.