MARIA KOHLBECK

AUCH EIN ERBE

 

Auf dem Weg ins Krankenhaus überlege ich, ob die Frau, die ich besuchen will, noch meine Kusine ist; zu viel hat man schon aus ihrem Körper herausgeschnitten. Sie füllt dann die Leerräume selbst mit Unmengen von Tabletten aus. Ich entrümple von Zeit zu Zeit meinen Medikamentenschrank, um die abgelaufenen Packungen wieder in die Apotheke zu bringen. Mit derlei Gedanken beschäftigt, merke ich gar nicht, wie ich ins Krankenzimmer meiner Kusine gekommen bin.
Sie hat mich schon gesehen und winkt mir. Eigentlich hat sie keinen Spitalsteint, ihr Gesicht zeigt schon ein wenig Farbe, und das ist beruhigend. So ziehe ich mir einen Sessel zu ihrem Bett, überreiche ihr die mitgebrachten Blümchen, weil sich's so gehört, und frage, wie sie sich nun fühlt.
Für die nächste Zeit habe ich nichts zu sagen, ich habe nur aufmerksam ihren Ausführungen über die letzte Operation und Einflechtungen über irgendeine vorherige zu lauschen. Als sie mir dann versichert, sich zu freuen, daß ich stets nach ihr sehe, meine ich so nebenbei: "Wenn du nicht von Zeit zu Zeit einen unbändigen Drang verspürtest, unbedingt aus einem Spitalsfenster zu schauen, würde ich am Ende die Jahreskarte der Verkehrsbetriebe nicht voll ausnützen."
Als diese Worte laut im Raum standen, erschrak ich selbst darüber, meine Kusine lachte jedoch und sagte aus tiefster Überzeugung: "Du hast ja bei deiner Geburt nur die besten Gene von deinen Eltern geerbt!"
Ich dachte, bei meiner Geburt wären gute Feen, vielleicht auch eine böse um meine Wiege gestanden. Dabei soll ich winziges Wesen schon etwas geerbt haben! Bei dem Wort erben dachte ich immer nur an materielle Werte, die mir die Eltern jedoch nicht hinterlassen hatten, und nun habe ich doch etwas geerbt, eben Gene. Ich habe mich nie mit Genen beschäftigt, obwohl ich in Zeitungen immer wieder Artikel über Genmanipulationen gesehen habe. Ich habe also ein Erbe von meinen Eltern, und dies sogar noch steuerfrei!
Was hat Mutter mir vererbt? Was hat Vater mir vererbt? Ich sehe doch weder ihm noch ihr ähnlich. Als ich jedoch als Schülerin mit ihnen das Grab von Vaters Eltern besucht hatte, war ein alter Mann auf mich zugekommen und hatte laut gemeint: Du suchst das Grab der K, hast ja der Lies ihre Haar, ach was, bist selber die kleine Liesl.
Ich habe diese Großmutter Lies nie kennen gelernt, und nun hat sie mir auch etwas vererbt? Ihr kastanienrotes Haar, das mir seinerzeit manchmal Ärger bereitet hatte. Sollte sie, nein, sollte ich so aussehen wie sie?
Nachdem ich, außer einer abgerissenen Achillessehne wegen, kein Krankenhaus je brauchte, muß ich wohl auch gegen Krankheiten widerstandsfähige Gene geerbt haben. Wer weiß jedoch, von wem? Vater hatte eine einzige Krankheit, und die hat er nicht überlebt. Vier Jahre fehlten meiner Mutter, um ein Jahrhundert lang über diese Erde zu wandern. Eine Krebsoperation mit 85 hat sie so nebenbei überstanden.
Von wem hat meine Kusine nur ihr Erbgut? Soweit ich weiß, verspürte ihre Mutter niemals Lust aus Spitalsfenstern zu schauen. Als sie jedoch schon über 8O Jahre zählte, bekam sie lediglich Angst, daß sie sich am Abend gesund ins Bett legen und am Morgen tot sein könnte. Ich versicherte ihr dann regelmäßig: "Tantchen, mir könnte nichts Besseres passieren. Am Abend gehe ich quietschvergnügt schlafen und am Morgen stelle ich fest - ich bin tot."
"Frecher Fratz, kannst nicht leugnen, daß du die Tochter meines Bruders bist."
"Will es ja gar nicht."
Allerdings steigt eine Ahnung in mir auf: Hat Vater mich mit seinen Genen manipuliert?