MARGARITA KINSTNER

 

 

 

Auszug aus meinem Debütroman, der im Herbst 2013 bei Deuticke erscheint


Der Sommer saugt alles aus, er nuckelt an den Blättern und Flüssen und zieht die Körperflüssigkeiten aus den Leibern. Die Straßenbahnen stinken nach Touristenschweiß und die Autos nach feuchten Managerhemden und frischer Kinderkotze. Auch am Donaukanal riecht es, nach totem Fisch und verfaultem Laub. Nur in Sonjas Wohnung ist es dank der neuen Klimaanlage schön kühl, doch dort will Jakob nicht mehr hinein. Lieber liegt er in Maries Achselhöhle und leckt ihr den letzten Tropfen Schweiß vom Körper. So bekommt er nicht mit, wie Sonja anruft und auf seine Mobilbox kreischt, was das soll, ob er jetzt komplett durchgeknallt sei, ihr einfach so den Schlüssel auf den Küchentisch zu legen, ein feines Arschloch sei er! Aber so ist das Leben nun einmal. Während unter Maries Fenster die Bauarbeiter ins Innerste Wiens vordringen, dringt Jakob ins Innerste Maries vor, und während Sonja die Tränen herunter rinnen, rinnen Jakob die Schweißperlen herunter, bis am Schluss beide ganz dehydriert sind. Was ist aus der großen Liebe geworden? Das gemeinsame Bett gibt es nicht mehr, auch den gemeinsamen Kühlschrank nicht, Sonja trinkt Mineralwasser in ihrer sanierten Altbauwohnung, Jakob trinkt Mineralwasser in Maries Garconniere, und als beide über ihre Lippen lecken, schmecken sie salzig, Jakobs Lippen vom Marieschweiß und Sonjas Lippen von den Liebeskummertränen.
Die große Liebe ist austauschbar, wie alles im Leben.

Auch Konsalik-Heftchen sind austauschbar – jede Woche eine neue Ausgabe, ein neues Schicksal, eine neue große Liebe. Deswegen geht die zweiundachtzigjährige Hedi Brunner zur Trafik. Alte Frauen haben zwei dumme Eigenschaften, sie lesen zu viel Konsalik und trinken zu wenig Mineralwasser – Angewohnheiten, die im Sommer das Leben kosten können.
Jakobs Großmutter hat Glück, der Trafikant ruft die Rettung, und eine halbe Stunde später liegt sie unter einem weißen Laken und bekommt Salzlösung in die Venen geträufelt. Auf Jakobs Mobilbox gesellen sich die Mutternachrichten zu den Sonjanachrichten, doch der Presslufthammer unter Maries Fenster macht es möglich, dass Jakob von alldem nichts mitbekommt.

So vergehen die Hundstage, die Katzenhaare kleben an Jakobs Körper und auch die Forschungsarbeit ruht. Als Jakob endlich sein Handy aus der Hosentasche zieht und den Akku auflädt, kommt er mit dem Nachrichtenabhören gar nicht mehr nach. Wo er sei, jammert die Mutter, die Großmutter sei umgefallen, sie brauche jetzt seine Hilfe, wo er verdammt noch mal stecke, kreischt Sonja. Aber man braucht schließlich auch ein wenig Erholung, Zeit für sich. Als Jakob tags darauf mit ein paar Flaschen Mineralwasser und zwei Liebesgeschichten in die Straßenbahn klettert, hat Sonja Glück, diesmal hebt er ab.
Zwei Sitzreihen weiter vorne kaut ein dicker Fahrgast mit dem Namen Herbert Sichozky an seiner Wurstsemmel und hört grinsend zu.


Lange hat man die Großmutter nicht im Krankenhaus behalten. Schon sitzt sie wieder in ihrem Schaukelstuhl, trotz der Hitze eine Decke über den Knien, und liest eines ihrer Konsalik-Heftchen.
"Kein Wunder, dass da dein Kreislauf nicht mitmacht", sagt Jakob.
Er stellt das Mineralwasser in die Vorratskammer, aber ja, es gehe ihm gut, ja, auch die Doktorarbeit gedeihe, prächtig sogar, bald schon würde er fertig sein. Die Welt will belogen werden und die Großmutter erst recht.
"Und?", fragt die Großmutter, "Wie geht’s der Sonja?"
Immer die gleichen Sätze, wie eine wärmende Decke im Hochsommer, da kommt keine Luft dazu, Fäulnisgeruch breitet sich aus, aber lüften kann man morgen auch noch, Geheimnisse lüften sich bekanntlich noch schwerer als stickige Großmutterwohnungen, und das will was heißen. Und wenn sie morgen stirbt, denkt Jakob, wozu soll ich sie belasten, soll sie doch glauben, dass ich bald meinen Doktor hab und Sonja heirate. Also lässt er sie zurück, mit zwei neuen Konsalik-Heftchen, sechs Flaschen Mineralwasser und einem Traum vom Urenkel.
Beschwingt läuft er die Treppen hinunter.
Doch dann macht ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung. Mit rotem Filzstift kritzelt es in seinen Glücksgefühlen, sodass er am Ende aussieht wie ein Schularbeitsheft. Oberleitungsschaden, heißt es in der Durchsage, und noch denkt sich Jakob nichts dabei. Gemütlich lehnt er sich zurück, jetzt ist wenigstens Platz in der Straßenbahn, jetzt kann er ungestört lesen. Oberleitungsschaden, wie lange wird das schon dauern, zehn Minuten vielleicht. Er sieht auf die Uhr. Er ist früh dran, einen Polster von fünfzehn Minuten hat er locker, also kramt er nach dem Penguin Classic Taschenbuch. Wenn Jakob Literatur liest, dann immer alt und englisch. Nach sieben Seiten von Wells´ Time Machine wird er dann aber doch nervös. Noch immer steht der Fahrer am Gehsteig, zwischen den Lippen eine Zigarette, um ihn herum eine Traube gereizter Fahrgäste, und zuckt mit den Schultern. Da geht so schnell nichts weiter. Besorgt sieht Jakob auf die Uhr. Klappt das Buch zu und greift in die Hosentasche. Wo hat er bloß sein Handy? In der linken Gesäßtasche ist es nicht, in der rechten auch nicht, also den Rucksack aufschnüren, alles von unten nach oben wühlen, doch vergeblich, das Handy ist weg. Scheiß Taschendiebe, Dreckspack elendiges, jetzt haben sie ihm auch noch das Handy geklaut und mit ihm Maries Nummer! Fluchend springt er auf und läuft die Alser Straße hinunter. Warum ist er auch so lange sitzen geblieben, wieso ist er nicht mit den anderen ausgestiegen, sieben Minuten nur mehr, das schafft er nie! Jetzt bekommt er auch noch Seitenstechen. Vielleicht hätte er mit Sonja joggen gehen sollen, so wie sie es sich immer gewünscht hat, dann wäre er jetzt nicht so außer Atem, dann wäre er fit und würde wie eine Gazelle die Alser Straße hinunter sprinten, in fünf Minuten vom Währinger Gürtel zum Stephansplatz. So aber benötigt er ganze dreiundzwanzig Minuten, und als er endlich ankommt, sieht er nur eine Menge Touristen und ein Häufchen Hundescheiße. Also läuft er weiter, die Straße hinunter, über die Brücke zum Augarten, um den Augarten herum, in die Castellezgasse hinein. Läutet, wartet, läutet. Doch Marie ist nicht zu Hause.