JOSEFA MAYER-PROIDL

LEBENSABSCHNITT

 

Seine Nichte, eine hagere, muskulöse Frau, legte die Fotos und seine Kleidung in einen alten Pappkoffer, dessen Verschluss nicht mehr funktionierte. Sie band einen Lederriemen herum.
Er ging nicht gerne von hier weg, obwohl dieses Haus für ihn und seine Frau zum Gefängnis geworden war. Trotz dieser Erinnerungen wäre er gerne hier alt geworden. Seine Krankheit zwang ihn in das Heim. Keine Kinder. Keine Erben. Kein Weiter-leben. Jetzt sah er seinen ungeborenen Sohn jede Nacht. Stellte ihn sich vor. Klein und muskulös wie er? Die honigfarbenen Augen seiner Frau? Alles hätte er jetzt darangesetzt, aus ihm einen tüchtigen Menschen zu machen. Arbeiter? Nein. Arbeiter wäre er keiner geworden. Kein Befehlsempfänger. Im Traum sah er seine Enkel-kinder. Seine Schwiegertochter. Rückte dieses Bild jede Nacht zurecht, formte es jede Nacht neu. Tausende Mosaiksteine. Immer neue Bilder. Bis er erschöpft einschlief.
Auch im Traum begann er, die Steine zu verschieben. Einmal sah er sie grau mit schwarz. Dann in verschiedenen Rottönen. Immer unzählige Steine, die nicht zusam-menpassen wollten. Er zerstörte alles. Baute es wieder auf. Konstruierte es in der Ver-gangenheit. Baute es in der Zukunft. Legte die Steine in der Gegenwart. Zerstörte sie wieder. Damals hatte er in dieser Welt keine Hoffnung für ein Kind gesehen. Durch-lebte jede Nacht seine Vertreibung aus Polen, die letzten Kriegstage.
Ein Arbeitskollege gab ihm die Adresse des Arztes.
Still waren er und seine Frau im Zugsabteil gesessen. Sie beide allein. Er hatte ihre Hand gehalten, von Horn bis Wien. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Ihre Tränen rannen auf seine Jacke. Sie suchten vor dem Bahnhof in Heiligenstadt ein Taxi. Dabei kamen sie an einem Kinderspielplatz vorbei. Eva schmiegte sich eng an ihn. Er sagte nur: “Wer weiß, was dieses Kind alles durchstehen und erleben müsste.” Sie weinte noch heftiger. Vorübergehende Menschen starrten sie an. Manche schüttelten den Kopf. Ein altes Paar blieb stehen und sah ihnen lange nach. Eine Frau fragte, ob sie helfen könne.
“Hör endlich auf mit dem Gejammer”, schrie er. Sie konnte nicht aufhören. Mit dem Taxi fuhren sie zur Urania. Das Haus sah alt und ungepflegt aus, der Verputz bröckelte ab, die Fenster waren morsch. Auch innen alles schmuddelig und abgewohnt. Die abgetretenen Steine der Treppe waren sehr schmutzig.
An der obersten Etage saß ein kleiner Bub und spielte mit einem gelben Ball. Als er die beiden kommen sah, sprang er auf. Dabei fiel ihm der Ball aus den Händen. Kollerte die Stufen hinunter, landete am Eingangstor. Josef sah in große dunkle Augen, sah das traurige Gesicht. Der Bub begann zu weinen.
“Brauchst nicht weinen, ich bringe dir den Ball.” Er löste sich von Eva. Lief die Stufen hinunter. Brachte dem Buben den Ball. Je näher er kam, desto größer wurden dessen Augen. “Danke”, sagte der Junge. Hielt den Ball fest umklammert und blickte ihnen nach. Josef sah noch lange, wenn er die Augen schloss, den kleinen Buben mit dem gelben Ball.
Heute beneidete er seine Frau. Sie hatte ihr Leben hinter sich. Er setzte sich noch einmal an den klobigen alten Tisch. Eva hatte immer ein blau-weiß kariertes Tuch darüber gelegt. Die selbst gehäkelte Spitze, die er aufgelegt hatte, war fransig und löchrig. Oft gewaschen. Sie erinnerte ihn an seine Frau, die die langen Wintermonate mit Häkel- und Strickarbeiten verbracht hatte.
Im Sommer hatten sie am Abend gerne im Garten oder beim See gesessen und der Stille gelauscht. Eva ging nie allein aus. Nie bei Freundinnen zum Kaffee eingeladen. War ihr Leben glücklich oder unglücklich? Nie hatte er darüber nachgedacht. Wichtig war für ihn, dass sie da war.
Sein Blick streifte über die vielen Kissen auf der Sitzbank. Wie Soldaten waren sie aufgestellt, jedes genau in der Mitte eingedrückt. Seit dem Tod seiner Frau durfte niemand die Kissen berühren. Auf eines war ein Auerhahn gestickt, ein Geschenk für seine Frau zu ihrem fünfzigsten Geburtstag.
In früheren Jahren war er jeden Tag auf diesem Sofa gelegen. Hatte bis Mitternacht in den Fernseher gestarrt. Jetzt mied er den Platz. Wenn zwischen elf und zwölf Uhr mittags der Postbote die Zeitung brachte, dann las er sie nicht wie früher auf dem Sofa, sondern setzte sich an den Küchentisch. Nichts durfte verändert werden. Als sei sie nur kurz einkaufen gegangen, so sah es aus. Der Teppich, den sie selbst geknüpft hatte, war das Prunkstück des Hauses. Er hatte ein Blumenmuster. Wolle und Arbeitsmaterial waren ein Geschenk an sie zur Silberhochzeit.
Monate lang war sie bei der Knüpfarbeit gesessen. Den fertigen Teppich legte sie zwischen Schrank und Sitzecke mit den sieben Kissen. Josef trat nie darauf. Jedes Mal, wenn er dort in Richtung Küche ging, stieg er mit einem großen Schritt darüber hinweg. Seine Frau lächelte dann stolz.
Jetzt bückte er sich und rollte den Teppich ein.
“Wozu brauchst du den im Heim? Den kannst du doch hier lassen. Das Zimmer ist eingerichtet.”
Josef nickte und nahm eine dicke Schnur aus dem Küchenkasten. Schnitt ein langes Stück ab und band den Teppich zu einer festen Rolle. Er legte ihn auf die Klei-dungsstücke, die noch neben dem Koffer lagen. Wilma schüttelte den Kopf und legte den Teppich auf den Koffer. “Unsinn”, sagte sie. “Du wirst dich schon eingewöhnen. Dort bist du gut versorgt. Vor ein paar Tagen habe ich übrigens von deinem Konto die letzte Rate für das Haus überwiesen. Du bist jetzt schuldenfrei.”
“Danke”, sagte er. “Danke. Darauf habe ich dreißig Jahre gewartet.”
Langsam ging er aus dem Haus vorbei an den Johannisbeersträuchern. Die Beeren waren bereits abgefallen. Sie lagen braun auf dem Boden, von der Sommerhitze getrocknet. Vorbei am Rittersporn. An den längst verblühten Pfingstrosen. Auf den Rittersporn war er stolz. Er war schon alt. Blühte aber jedes Jahr wieder üppig und in Zweierreihen entlang des Mittelganges. Weiß, lila und blau. Bei Schönwetter summte und brummte es. Ein Schwarm Bienen genoss den Honig und den Blütenduft. Er liebte diese hohe Blütenpracht. Auf den anderen Beeten wucherten Gras und Unkraut. Thymian, der ursprünglich als Wegeinfassung gedacht war, hatte die Steine überwachsen. Rosmarin wuchs in großen Büschen aus festen Trieben. Ein Schnittlauchstock schob seine Samenkapseln zwischen die verwilderten Erdbeeren. Seit Jahren wurde hier kein Gemüse mehr angebaut. Er schritt am Holzzaun vorbei. Morsch und schief fasste er den Garten ein.
Wie im Traum stieg Josef die Stufen zum See hinunter. Setzte sich auf den glatten Stein, auf dem er so oft gesessen war. Der Wind trieb ein Blatt vorbei. Julitage waren hier still und trocken, der See klein um diese Jahreszeit. Eingeschrumpft in der Dürre. Wie ein Spiegelbild wirft er den Himmel zurück. Ein langbeiniges Insekt lief im Windschatten eines im Wasser liegenden Baumes. Wellen strichen darüber.
Er ging einige Schritte weiter. Da waren ein paar frühe Himbeeren. Klein und wahrscheinlich sauer. Ihre Zeit war noch nicht gekommen. So ist es, dachte er. Wenn man an einem Ort lange lebt, gewöhnt man sich daran, die Dinge nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit zu sehen.
Er blickte auf den See. Das Wasser war tagsüber helltürkis, bei Schlechtwetter aber beinahe schwarz. Josef erinnerte sich an seine Frau. Sie war oft auf dem Stein gesessen. Hatte stundenlang auf den See geblickt. Jeden Tag nach dem Frühstück war ihr erster Gang dorthin gewesen. Schön war sie. Eine zierliche, kleine Person.
In den letzten Jahren war sie abgemagert. Aber immer noch schön. Besonders ihre Beine. Bis zuletzt hatte sie auch herrliche Brüste.
Langsam ging Josef den schmalen Weg entlang, rund um den See. Erreichte den Föhrenwald. Fasste einige Bäume an, legte seinen Kopf an den Stamm. Jeden einzelnen kannte er, war mit ihnen alt geworden. Der Geruch nach Humus und Baumrinde. Besonders wenn es regnete, roch der Boden süß und feucht, sah dann aus wie ein endlos weiches Bett. Nur ein schwacher Lichtstrahl konnte durch das Geflecht der Zweige dringen. Die Föhren standen so dicht, dass nichts auf der hohen Matte der Nadeln wachsen konnte. Sein Leben war untrennbar mit diesem Land verbunden. Die Füße traten leicht auf und weich. Er wusste, wie man Holz fällt. Wie der Wald bei Trockenheit aussieht. Wie sich die Föhren stöhnend im Wind bogen. Wie sie im Winter unter der Last des Schnees litten.
Es ist sonderbar, dachte er, alle Dinge kommen und gehen Jahr für Jahr zur gleichen Zeit. Er konnte es sich nicht erklären. Genau wie die Tatsache, dass die Himbeeren zu einer bestimmten Zeit reifen. Warum die Schlehen erst nach dem Frost gegessen werden konnten. Er ging weiter und benannte die Dinge, die an seinen Augen vorüberzogen. Benannte sie für sich selbst, so, als hätte er sie neu entdeckt. Verweilte lange bei einem Hollerbusch. Studierte seine Form und Größe. Die grünen Beeren hatten sich bereits rot gefärbt. Die Schafgarben standen nicht mehr in Blüte. Sie waren von der Sommerhitze grau und trocken geworden.
Mit der Schuhspitze löste er den Moosbelag auf einem Stein. Ließ ihn die Böschung hinunterrollen. Trat aus dem Wald, sah das kleine Haus. Es stand mitten im Garten. Von Blumen gesäumt, aber verwildert. Lange war hier nicht gejätet worden. Er öffnete die Gartentür. Sie war braun, an vielen Stellen abgebröckelt. Schon lange nicht mehr gestrichen. Er schaute auf die Blumen und Büsche. Liebte sie alle. Dann ging er langsam zwischen den Blumenbeeten in das Haus. Ungeduldig wartete seine Nichte auf ihn.
Der Auszug, das war wie die Flucht aus Polen. Damals hatte er Angst gehabt. Jetzt hatte er auch Angst, Angst vor der Übersiedlung, Angst vor dem Neubeginn. Die Jahre laufen, dachte er. Der Lebensfaden rollt immer schneller ab. In Polen hatte er seine Heimat verlassen müssen. Geblieben war nur eine schwache Erinnerung. Kaum Hoffnung, Teschen je wieder zu sehen. Damals benötigten seine Mutter und die Geschwister fremde Hilfe. Heute ist er alt. Auch auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen.
Vorabdruck aus dem Romanmanuskript “Ameisenzerschneider", erschienen im Juni 2006 bei Edition “Spruchreif".