Ich war zu jung für die Liebe. Mit dreizehn ist man noch ein Kind.
Jedenfalls sa-hen das die Erwachsenen so. Daher behielt ich meine Träume
für mich. Kann man denn zu jung sein, wenn es um Liebe geht? Wieso
spürt man sie dann? Er-schafft uns Menschen ein Gott, wenn es ihn
gibt, mit der Fähigkeit zu lieben und setzt gleichzeitig ein Alterslimit?
Lässt er seine Geschöpfe Liebe empfinden, er-mahnt sie aber
gleich darauf mit erhobenem Zeigefinger und sagt: Du nicht! Du bist dazu
noch zu jung? Nein, das konnte ich nicht glauben. Einfach aber war es
nicht, fertig zu werden mit all der Liebe, die ich in mir trug und nicht
zeigen durfte, weil ich für sie noch zu jung war.
Ich weiß gar nicht, wann genau es begonnen hatte mit meiner Liebe.
Wahr-scheinlich gleich in der ersten Klasse, als ich ins Gymnasium kam.
Mit elf also. Fritz saß drei Reihen hinter mir in der Schulbank.
Während des Unterrichtes konnte ich ihn nicht beobachten. Dazu hätte
ich mich umdrehen müssen. Und das wäre sofort aufgefallen. Man
hätte mich verlacht. Davor musste ich mich schützen. Er war
zurückhaltender als die anderen, nicht so rüpelhaft. War fast
ein bisschen schüchtern. Aber nur Mädchen gegenüber. Das
gefiel mir. Alles an ihm gefiel mir. Er war nicht viel größer
als ich, schlank und einer der besten Turner und auch Schifahrer. Ich
liebte seine dunkel-blonden kurzen Locken und diese gewisse Asymmetrie
in seinem Gesicht, die es zu etwas Besonderem machte. Er kniff sein rechtes
Auge um eine Spur mehr zusammen als sein linkes, was aussah, als würde
er zwinkern. Das verlieh ihm einen immer lächelnden Gesichts-ausdruck,
was ihn so sympathisch machte. Heute noch sind seine Körperhaltung
und die Art, wie er sich bewegte und die Menschen anlächelte, in
mir genau so lebendig wie damals vor mehr als fünfzig Jahren.
Bis zur Reifeprüfung gingen wir in die gleiche Klasse. Aber die schönste
Zeit war die ganz zu Beginn. Die lange Zeit meiner ganz jungen Liebe.
Die ich nicht zeigen durfte. Und die trotzdem auffiel. So verstecken kann
man sich gar nicht, schon gar nicht in einer Schulklasse mit 13- und 14-jährigen.
In meinem Kopf kreiste die ewige Frage, ob es ihm genauso ginge wie mir.
Oder ob er über mich lachte. Mich auslachte, wenn ich rot wurde zum
Beispiel in seiner Nähe. Sah er mir in die Augen mit seinem eigenartigen,
für mich so wunderbaren Lächeln, schwebte ich auf Wolken. Tuschelte
er hinterrücks und brachen danach seine Freunde in Gelächter
aus, während sie mich spöttisch anblickten, tarnte ich mich
mit gespielter Gleichgültigkeit. Aber es schmerzte. Daher redete
ich mir ein, er müs-se, um dem Spott seiner Freunde zu entgehen,
seine Gefühle eben genauso ver-stecken wie ich. Und entschuldigte
ihn damit in meinem Herzen. Denn nur so wurde mein Schmerz erträglich.
Ein paar Jahre lang ging das so hin und her mit meiner Liebe. Bis Fritz
mich zu diesem Radausflug einlud. Das kam überraschend. Ich war das
einzige Mädchen meiner Klasse, das ein Rad besaß. Ein Rad mit
Dreigangschaltung, mit dem ich auch in die Schule fuhr. Das wertete mich
auf in den Augen unserer Burschen. Besonders meine Dreigangschaltung und
der Kilometerzähler hatten es ihnen angetan. Immer öfter lächelte
Fritz mir so eigen zu, dass es kein Zufall mehr sein konnte. Bis er mich
in einer Pause ansprach, ob ich am Sonntag mit ihm eine Radtour machen
wolle. Herbert und Bernhard würden auch dabei sein. Er hatte mich
angesprochen! Eingeladen! Das war noch nie vorgekommen. Wir sollten uns
außerhalb der Schulzeit treffen. Wie oft hatte ich davon geträumt!
Endlich! Wir waren beide älter geworden. Fast vierzehn. Waren endlich
nicht mehr zu jung für unsere Liebe. Er hatte wohl seine Schüchternheit
überwunden. Fürchtete den Spott nicht mehr. Das war jetzt der
Beweis, dass auch er …
„Meinetwegen!“, sagte ich und versuchte, so gleichgültig
wie möglich zu klingen.
Diesem Sonntag fieberte ich entgegen. Ich zog mein neuestes Kleid an.
Zwar war es zum Radfahren nicht grade geeignet, aber mein ganzer Stolz.
Hosen waren für Mädchen damals ja noch nicht üblich. Ich
wollte besonders schön sein. Wir fuhren zu viert über die Höhenstrasse
nach Klosterneuburg. Als Mädchen hielt auch ich bei den Steigungen
ganz gut mit. Mein Gangrad! Dann ging es der Do-nau entlang bis zur Burg
Greifenstein. Es war Frühling, die Sonne schien und das Wetter hätte
nicht schöner sein können. Das war jetzt nicht mehr nur die
Fanta-sie eines verliebten jungen Mädchens. Das war Wirklichkeit!
Spannendes Leben! Wir waren verschwitzt von der anstrengenden Fahrt. Auf
einer Steinmauer vor dem Eingangstor zur Burg rasteten wir und ließen
unsere Füße herunter bau-meln. Bernhard und Herbert wollten
die Burg besichtigen. Fritz nicht. Daher auch ich nicht. Natürlich
nicht. Erst saßen wir noch zu viert auf unserer Mauer, plauderten
und scherzten, richteten die Professoren aus und benahmen uns ganz zwanglos.
Wie Kumpel. Und es tat wohl, als Mädchen unter Burschen wie ein Kumpel
akzeptiert zu werden. Als dann endlich die beiden mit ihrer Besichtigung
begannen und hinter den Burgmauern verschwanden, waren Fritz und ich zum
ersten Mal miteinander allein. Mein Traum war Wirklichkeit geworden. Jetzt
wollte ich nicht mehr nur Kumpel sein. Irgendetwas würde sich nun
entscheiden, dachte ich. Hoffte ich. Ich hatte ein bisschen Angst vor
dem, was er sagen würde, weil ich nicht wusste, wie ich antworten
sollte. Würde er versuchen, mich zu küssen? Würde er zu
schüchtern sein? Oder sollte ich anfangen? Sollte ich ihm einfach
sagen: Ich hab dich gern, ich kann nichts dagegen machen? Ich liebe dich
würde ich nie sagen. Das würde er bestimmt blöd finden.
Da würde er lachen. Das Wort Lieben war eher zu vermeiden. Das wirkte
so geschwollen. Fast lächer-lich. Wie im Kino. Da saßen wir
nun also auf dieser Mauer. Endlich miteinander allein. Zum ersten Mal.
Und schwiegen. Mein Herz klopfte so stark, dass ich befürchtete,
er könne es hören. Plötzlich war es mir unmöglich,
nur ein einziges Wort herauszubringen. Irgendetwas schnürte meinen
Hals zu. Ich sah zu ihm hinüber. Aber er blickte geradeaus. Er sah
mich nicht an. Ging es ihm wie mir? Schnürte auch ihm etwas die Kehle
zu? Die Minuten verstrichen. Langsam wurde es peinlich, so dazusitzen
und nichts zu reden. Das war ja unnatürlich. Unser Schweigen knisterte
nur so vor Spannung. Keiner beendete es. Je länger es dauerte, umso
unmöglicher wurde mir, doch noch mit dem Reden zu beginnen. Außerdem
war doch er der Mann. Hatte nicht er zu werben? Hatte nicht er den ersten
Schritt zu tun? So hatte man es mich gelehrt. Nur ja nicht aufdringlich
sein. Nur ja als Frau seinen Stolz bewahren, sich keinem Mann an den Hals
werfen. Nein, ich durfte nicht anfangen, ihm mein Innerstes zu öffnen.
Weiter verstrichen die Minuten. Die Gelegenheit war da. Wir waren allein.
Und nun ging sie gleich vorüber, wenn nicht bald doch noch …
Wir schwiegen immer noch. Aus Schüchternheit vielleicht. Oder Angst.
Irgendwann winkten uns aus einem der obersten Burgfenster die beiden Schulkameraden
zu. Sie lachten. Wir winkten zurück. Aber auch das durchbrach unser
Schweigen nicht. Es war zu spät, jetzt noch mit dem Sprechen zu beginnen.
Worte zu sagen, die ich schon Hunderte Male in meiner Fantasie gesagt
hatte. Oder auf Worte zu hoffen, die er in meinen Träumen zu mir
gesprochen hatte. Es war überhaupt zu spät für irgendeine
Unterhaltung. Die Gelegenheit war verpasst. Es war klar, dass nichts mehr
passieren würde. Ganz langsam nur ließ die Spannung nach. Eine
Stunde lang hatte die Führung gedauert. Eine Stunde lang hatten wir
geschwiegen. Nie wieder habe ich eine vergleichbar spannungsgeladene Schweigestunde
erlebt. Heute weiß ich es. Heute weiß ich, diese wunderbare
Stunde spannendsten Schweigens war die schönste Liebeserklärung,
die ich je in meinem Leben bekommen habe.
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