Von
keinem unserer Familienwandertage war Helmut mehr wegzudenken. Diese hatten
sich an fixen Daten, dem 1. Mai und 26. Oktober (Staatsfeiertag), eingebürgert,
als die Kinder noch klein waren, und wurden Jahr für Jahr fortgesetzt,
als der Nachwuchs längst eigene Wege ging. Unsere Wanderungen beschränkten
sich auf die nähere Umgebung Wiens, wiesen keinerlei Schwierigkeitsgrade
auf und dauerten nie länger als drei bis vier Stunden. Plötzlich
war Helmut mit von der Partie, regelmäßig und konsequent. Ihm
kam nie Wichtigeres dazwischen, wie es bei uns häufig der Fall war.
Helga und Manfred, die das Bergwandern intensiver betrieben als wir, hatten
ihn bei Höhlenbegehungen des österreichischen Alpenvereins kennengelernt.
Auch da hatte er keine der organisierten Touren versäumt. Bei der
Fülle an Bergerfahrungen, die er seinen Erzählungen nach haben
mußte, erstaunte sein Interesse an unseren eher pensionistenhaften
Spaziergängen. Daß er nie Besseres vorhatte und unsere Routen
ihm nicht zu minder waren, wunderte uns. Im Freundeskreis blieb er mit
den Jahren nicht gerade ein Außenseiter, wurde aber auch nicht wirklich
zum Freund. So wie er aussah, hätte man ihm diesen Wanderfanatismus
niemals zugetraut. Seine linkische, direkt unsportliche Körperhaltung,
sein maskenhafter Gesichtsausdruck mit hinter dicken Brillengläsern
versteckten, stark verkleinerten Augen hätte eher in eine Bibliothek
oder hinter einen Computer gepaßt als in die freie Natur. Sympathie
zu wecken war nicht seine Stärke. Trotz diskreter Aufdringlichkeit
wirkte er auch wiederum nicht so unsympathisch, daß man seine Nähe
mied. Stets wahrte er auf mehr oder minder taktvolle Art Distanz, als
wolle er bewußt gerade durch seine Zurückhaltung auffallen.
Und wenn er während des Wanderns eine Unterhaltung begann, wobei
er Zuhörerinnen bevorzugte, erzählte er die wundersamsten Geschichten:
wie er als Säugling bei einem Bombenangriff verschüttet und
in letzter Sekunde nur gerettet worden sei, weil seine Mutter darauf bestanden
hätte, an einer bestimmten Stelle zu graben; oder wie man ihn nach
einem Bootsausflug in der Karibik auf einer Korallenriffinsel einfach
vergessen hätte - was bei einem, der von der Notstandshilfe leben
mußte, wenig glaubwürdig klang - wie er sich mit letzter Kraft
mehr tot als lebendig schwimmend doch noch an den Strand hätte retten
können, wobei sein Fehlen im Hotel nicht einmal bemerkt worden sei.
Aus Taktgefühl vermied man nachzufragen, wie er sich diesen Luxusurlaub
denn finanziert hätte. Seine Armut fiel spätestens auf, wenn
wir ausgehungert und durstig nach mehrstündigem Marsch einkehrten
und sich Helmut etwas verlegen außerhalb der Gaststube herumdrückte,
bis er endlich genötigt wurde, sich zu uns zu setzen und sich auf
unsere Kosten etwas zu bestellen. Meist lehnte er da erst beschämt
ab, ließ sich dann aber doch aushalten. Mitleid war es wohl nicht,
was die Runde ihm gegenüber empfand, eher war es das Gefühl,
Mitleid haben zu sollen. Wenn es eine Aura gibt, durch die sich das Ureigenste
eines Wesens seiner Umwelt preisgibt, so wäre auf Helmuts Aura geschrieben
gestanden: ICH BIN HELMUT, DEIN NÄCHSTER, DU SOLLST MITLEID HABEN
MIT MIR!
Wie er wirklich lebte wußte niemand. Daß er nach fünfzehnjähriger
Pause bei seiner ehemaligen Versicherung jetzt wiederum eine Anstellung
bekommen hätte, derselben, die ihn einstmals auf sehr ungute, aber
elegante Weise zur Kündigung gezwungen hatte, glaubte ihm keiner.
Sich in unserem Kreise seiner Arbeitslosigkeit zu schämen, lag nur
zu nahe. Sonst schien er außer einer uralten Mutter, um die er sich
kaum kümmerte, weder Frau, Freundin, Verwandte oder Freunde zu haben.
Als seine Mutter starb, vertraute er sich Manfred an. Er erzählte
von einer großen Summe Geldes, von zwei Millionen, die irgendwo
in der Wohnung versteckt gelegen haben müßten. Unter all dem
alten wertlosen Zeug, mit dem die zwei Zimmer vollgestopft gewesen seien,
hätte er aber nicht gewußt, wo mit der Suche beginnen. Dann
hätte sich eine Frau, die er vom Nacktbaden auf der Hirscheninsel
her flüchtig kannte, angeboten, ihm bei den Säuberungs- und
Aufräumungsarbeiten zu helfen. Plötzlich sei diese Frau aber
verschwunden, ohne Lohn für ihre Arbeitszeit zu verlangen. Er sei
sich daher absolut sicher gewesen, sie hätte ihn betrogen, hätte
die Millionen gefunden und sich mit ihnen aus dem Staub gemacht. Auch
Manfred, unser Jurist, hatte für Helmut keinerlei Chancen gesehen,
zu diesem ja doch nur vermuteten Geld zu kommen. Diese weitere obskure
Geschichte, die im Freundeskreis rasch die Runde machte, weckte in uns
für Helmut nur noch mehr Mitleid.
Plötzlich aber fehlte er an einem der Wandertage. Er sei ernstlich
erkrankt, hieß es. Willi hatte ihn wegen lebensbedrohlicher Erstickungsanfälle
mit seinem Wagen aus dem Linzer Krankenhaus nach Wien bringen müssen.
Wieso er gerade Willi für diesen Freundschaftsdienst auserkoren hatte,
wußte dieser nicht zu erklären, führte es aber auf seine
prompte telefonische Erreichbarkeit zurück. Mit sehr schlechtem Gewissen
hatte er Helmut allein in einer völlig verwahrlosten Wohnung seinem
Schicksal überlassen. Froh war er gewesen, an Helga dieses Problem
abgeben zu können, die ehrenamtlich in einer kirchlichen Institution
seelsorgerisch tätig war. Helga war es dann auch, die Helmut schließlich
dazu brachte, sich überhaupt behandeln zu lassen. Ihn, dessen Gesundheitszustand
sich rapide verschlechterte, schleppte sie von einer Untersuchung zur
nächsten. Da sie sich karitativ nun einmal engagiert hatte, war es
ihr nicht mehr möglich, sich einfach so aus ihrer Samariterinnenrolle
zurückzuziehen. Vor allem dann nicht mehr, als bei Helmut ein unheilbares
Krebsleiden in fortgeschrittenem Stadium festgestellt wurde. Ich bewunderte
Helga für das, was sie tat und war froh, mich nicht selbst bemühen
zu müssen. Ihr Engagement fiel ihr nicht leicht, Helmut war als Gesunder
schon schwierig gewesen und wurde als Patient dann mehr als unangenehm.
Mit nichts war er zufrieden, war nur miselsüchtig und ausnehmend
lästig. Helga empfand bei dem, was sie hier tat, nicht wirklich Nächstenliebe,
denn sie liebte Helmut nicht, er war ihr nicht einmal sympathisch, und
Nächster war er für sie nicht. Auch an einen besseren Platz
im Himmel glaubte sie nicht. Ob sie es aus Mitleid tat, war ihr selbst
nicht klar. Denn eigentlich verdiente, und sie schämte sich dieser
Gedanken nicht, ein Mensch, der nur von anderer Menschen Mitleid lebte,
kein Mitgefühl. Eine Heimbetreuung, die sie ihm hätte organisieren
können, lehnte Helmut, stur wie er war, ab. Ihr Gezwungensein zum
Samariterdienst ging sogar noch so weit, daß sie Helmut den Weihnachtsabend
in ihrem Familienkreis verbringen ließ. Ihn an so einem Tag allein
gelassen zu haben hätte sie sich ohnehin nie verziehen. Der Anblick
des Todgeweihten allein schon, aber auch seine theatralisch dargebotenen
Erstickungsanfälle trugen nicht gerade zum Gelingen des Festes bei.
Trotz rapider Verschlechterung seines Zustandes schien Helmut von einer
baldigen Genesung überzeugt zu sein. Mir als guter Freundin klagte
Helga oft, wie sie dieses Kümmern um Helmut belaste, sie sich immer
eingeengter fühle, wie sie an den Grenzen ihrer Kräfte angelangt
sei, wie sie bereits die eigene Familie seinetwegen vernachlässige
und diese klebrige, mitleidheischende Klette Helmut am liebsten seinem
Schicksal überließe, wie sie sich als Opfer dieses Mitleidszwanges
gefangen fühle und keine Möglichkeit sehe, aus dieser Situation
auszubrechen.
Kurz vor seinem Tod rang Helmut in kaum verständlichem Gestammel
Helga auch noch das Versprechen ab, sich um sein Begräbnis zu kümmern.
Dabei faselte er etwas von Universalerbin und Geld, das im Kasten liege,
was natürlich niemand ernst nahm. Gnädig und sehr barmherzig
schien Helga diese Geistesverwirrung Sterbender, die endlich das fehlende
Geld, wie einst bei der Mutter, in einen Kasten zaubert. Wie wahr schienen
ihr plötzlich die Worte der Bergpredigt von den seligen Armen, denen
im Himmelreich ewiger Reichtum winke. Dann aber fand sie bei der Suche
nach Helmuts Dokumenten, die sie benötigte, um das versprochene Begräbnis
zu organisieren, in der verwaisten Wohnung tatsächlich unter einem
Berg von Wäsche im hintersten Eck seines Kastens ein Testament. Ein
handschriftlich verfaßtes, ordnungsgemäß unterschriebenes
Blatt Papier machte Helga zur Universalerbin und somit zur Besitzerin
von elf Sparbüchern im Gesamtwert von siebzehn Millionen Schilling.
Ich gönne der Freundin den Reichtum. Ich freue mich wirklich für
sie. Ich frage mich, um wievieles mehr und mit welcher Begeisterung sie
es für Helmut getan hätte, hätte sie von seinem Reichtum
gewußt. Es war ein schönes Begräbnis. DEINE FREUNDE hatte
sie auf die Kranzschleife schreiben lassen. Doch außer ihr und Manfred
nahm niemand daran teil. Es gab aber auch keine Verwandten, die hätten
verständigt werden können. Rätselhaft wird bleiben, woher
die Millionen stammen. Bankraub oder Heiratsschwindel scheiden aus, dazu
wäre unser ehemaliger Millionär viel zu tolpatschig gewesen.
Vielleicht hat er sie wirklich im Kasino gewonnen. Warum sie aber unter
alten Klamotten versteckt ihr sinnloses Dasein fristen mußten, wird
wohl auch nie mehr geklärt werden können. Vielleicht hätten
sie Helmuts Aura zerstört. Vielleicht hätte er ohne seiner Mitleidsaura
mit der Umwelt gar nicht mehr kommunizieren können? Und vielleicht
wäre ihm sein Leben ohne Kommunikation nicht mehr lebenswert erschienen?
Wie auch immer, die Antworten fehlen und wir bleiben auf Vermutungen angewiesen.
Heute aber, endlich befreit aus ihrer Verbannung in das Innere eines finsteren
Wäscheschrankes, fiebern diese Millionen, aller Zwänge entledigt,
ihrer sinnvollen Nutzung entgegen.
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