DORIS FLEISCHMANN

 

NACH DEM STURM

Martha Koller näherte sich langsam dem spiegelblanken See, um zur Unfallstelle zu gelangen. Sie war nicht mehr die Jüngste und es hatte sie viel Kraft gekostet, diesen Gang auf sich zu nehmen. Kein Lufthauch war zu spüren. Die Spätsommerhitze war erdrückend. Sie nahm einen Schluck Wasser aus der mitgebrachten Plastikflasche und strich sich eine Haarlocke aus der klebrigen Stirn. Kaum vorstellbar, dass am Vortag ein Sturm gewütet hat, dachte sie. Das Wetter konnte hier rasch umschlagen.
Die Segelleidenschaft ihres Mannes und ihres Sohnes hatte Martha nie nachvollziehen können. Größere Gewässer hatten ihr stets Respekt abverlangt -sie war lieber bei ihren Büchern geblieben. Die Sonne stand im Zenit und Marthas Augen brannten. Sie beschleunigte ihren Schritt und hob die rechte Hand als Schattenspender vor ihren Kopf. Das Seeufer lag ausgebreitet vor ihr, der Kies war mit Zweigen, Holzstücken, Unrat vermischt; eine Hinterlassenschaft des vergangenen Tages. Einige Baumstämme waren an den Strand geschwemmt worden. Wenn niemand kommt sie zu entfernen, dachte sie, werden sie früher oder später verfaulen. Martha war eine praktisch denkende Frau. Gefühlskälte hatte ihr Mann ihr im Streit einmal vorgeworfen. Der See ruhte still vor ihr, sie konnte keine anderen Menschen sehen. Am gegenüberliegenden Ufer erblickte sie die bunten Reste von Booten, die an den Holzstegen befestigt gewesen waren. Das Reparieren der Schäden würde Tage oder Wochen dauern. Eine Flaute war für Segler immer problematisch, aber an diesem Tag, dachte sie, wird wohl jeder hiesige Bootsmann dankbar dafür sein. Um sie herum lagen abgebrochene Äste und Zweige, die der Wind über den Strand getrieben hatte. Ein Baumstumpf war fast vollständig im Kies vergraben. Sie nahm ein zusammengeknülltes Stofftaschentuch aus ihrem kleinen Rucksack, wischte sich Stirn und Hals ab und trank einen weiteren Schluck aus ihrer Wasserflasche. Als sie ihre Sandalen auszog und vorsichtig über den Kies auf den See zuging, freute sie sich auf die Kühle, die ihren geschwollenen Füßen gut tun würde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie es konsequent vermieden, ihren Blick auf die südliche Bucht zu richten. Aber jetzt sah sie hin. Georg war ein guter Sohn gewesen. Martha erinnerte sich, wie er oft den Hügel zum Haus heraufgekommen war. Regelmäßig kam er aus der Stadt angereist, um mit Manfred, dem Dorfpolizisten und früheren Schulfreund, Segeltouren zu unternehmen. Nach dem Mittagessen war er immer gleich aufgebrochen, nicht ohne sich vorher vom Vater zu verabschieden, der sein Bett schon seit Jahren nicht mehr verlassen konnte. Altersschwäche, hatte der Doktor ihnen erklärt. Es war ein Unfall gewesen, ausgelöst durch einen Sturm, ähnlich jenem vom Vortag. Als ihr der fremde Polizist die Nachricht überbracht hatte, konnte sie seine Worte nicht glauben. Georg sollte tot sein, während Manfred nur leichte Verletzungen erlitten hatte? Auch damals, nach dem Bootsunfall, war Martha zum Strand gegangen, um sich die zerstörte Jolle anzusehen. Sie hatte es nicht verstanden und verstand es jetzt, ein Jahr danach, noch immer nicht, dass Manfred genesen war und Georg tot.
Als Martha ins Haus zurückkam, hörte sie ihren Mann. „Wo warst du die ganze Zeit?“, rief er aus dem Schlafzimmer, wo er bei zugezogenen Vorhängen im Bett lag. „Am See.“
„Bei dieser Hitze! Du bist fünfundsiebzig!“
„Ich musste es mir nochmals ansehen.“
„Ach“, sagte ihr Mann. „Ist es nicht schon so schwer genug?“
„Nein“, antwortete Martha.
„Du musst endlich loslassen“, bat ihr Mann traurig.
Martha antwortete nicht. Sie ging in die Küche und begann die
Gläser zu polieren. Das machte sie immer, wenn sie nachdenken
musste. Als alle Gläser glänzten, begann sie gedankenverloren die
Messer aus dem Block zu nehmen und ebenfalls zu polieren. Sie
lagen verstreut auf der Anrichte, als die Stimme ihres Mannes
Martha in die Gegenwart zurückholte.
„Martha!“, rief ihr Mann, dann nochmals: „Martha!“
„Ja?“
„Was ist los mit dir?“
„Nichts.“
„Bitte, Martha. Ich bin zwar alt, aber nicht senil. Georg war auch mein
Sohn.“
„Du hast dich nie dafür interessiert, warum er sterben musste!“
Ihr Mann schwieg. Sie steckte die Messer sorgfältig in den Block
zurück. Dann hörte sie erneut die Stimme ihres Mannes aus dem
verdunkelten Nebenraum.
„Martha, ich glaube, du gibst mir die Schuld, weil ich Georg schon als
Kind zum Segeln mitgenommen habe. Das konntest du nie
verstehen.“
Sie stellte den Messerblock auf seinen Platz zurück und sah aus
dem Fenster.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte ihr Mann leise.
„Ich muss allein sein“, sagte Martha.
Sie schlug die Haustür hinter sich zu und ging in der Hitze den schmalen Weg entlang, der in den Wald führte.
Hier war es
angenehm kühl. Sie erinnerte sich an einen weit zurückliegenden Sommer, als sie Georg nach längerer Suche lesend im Wald gefunden hatte. „Dein Vater möchte mit dir segeln gehen“, hatte sie zu ihm gesagt. „Ich möchte aber lieber lesen“, hatte Georg geantwortet, ohne von seinem Buch aufzusehen. Wie damals musste sie auch jetzt darüber schmunzeln. Als es dunkel wurde, kehrte sie zum Haus zurück. Die Nacht verbrachte sie in Georgs altem Kinderzimmer. Er war ein guter Sohn gewesen, stellte Martha fest, und schlief inmitten seiner Bücher ein.


„Nach dem Sturm“ erschien in der Literaturzeitschrift Entladungen der Arbeitsgemeinschaft Autorinnen zum Thema Windstille (05/2013).
ISSN 1814 -6104