CHRISTA KERN

JULIA AUF DER SUCHE NACH DEN STERNEN
&
STERNENSPLITTER

 

Außer Atem blieb Julia stehen und blickt zurück zu dem Dorf, aus dem sie gerade weggelaufen war. Mit Anstrengung konnte sie vereinzelte Lichter in den Häusern erblicken.
Sie würde ihnen beweisen, dass sie nicht feig war. Wieder zu Atem gekommen drehte sie sich in Richtung Wald. In der Dunkelheit war der Weg nur schwer auszumachen und sie stolperte immer wieder über Wurzeln und Steine. Nach einer Weile kam sie zu einer steinernen Treppe. Sie sah nach oben. Im Dunkeln ließen sich die Umrisse des Hauses erahnen. Sie atmete noch einmal tief durch und nahm all ihren Mut zusammen.
Tastend stieg sie die Stufen zu dem Haus hinauf. Es war vollkommen von Efeu umfangen, der es wie ein Paravent vor den Blicken verbarg. Die Fensterlöcher und die Türe waren schwarze Einladungen, aufregend, aber auch gruselig. Vorsichtig näherte sie sich der Tür, als sie hinter sich ein lautes Knacken hörte. Erschrocken fuhr sie zusammen. Das Herz klopfte bis zum Hals. Sie lauschte in die Dunkelheit. Als sie nichts weiter hörte, wich die Starre langsam wieder aus ihrem Körper. Vorsichtig drehte sie sich um und blickte zurück. Sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können, was sich da sah. Die Stiege, die sie hochgekommen war, hatte sich auf eine eigenartige Weise verwandelt. Eine glitschige Masse floß wie ein zäher Brei die Stufen hinunter. Die wild verwachsenen Büsche daneben verformten ihre Äste zu Tausenden Armen, die nach ihr zu greifen suchten. Die Blätter bewegten sich, als ob jemand dahinter stehen würde. Julias Augen begannen zu brennen und sie musste blinzeln. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. War da im Blätterwald nicht ein Augenpaar, das sie ansah?
Neben sich nahm sie einen Schatten wahr. Sie riß den Kopf herum und blickte ein dunkles Gesicht. Vor ihr stand ein Mann mit langen, wirr herabhängenden Haaren, der in der Hand einen Spaten hielt. Sein breites Gesicht war mit Narben bedeckt, wobei sich eine lange, rote quer über seine rechte Wange zog.
Erschrocken starrte Julia auf die Narbe, sie brachte kein Wort über die Lippen. Aber der Mann neigte sich zu ihr und fragte, was sie denn hier heroben suche. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Jetzt fragte der Mann, ob alles in Ordnung mit ihr sei. Nichts ist in Ordnung, dachte Julia, hörte sich aber wie aus weiter Ferne antworten, dass sie auf der Suche nach den Sternen sei. Der Mann schaute sie befremdet an. Wieso sie gerade hier oben danach suche. Sie antwortete, dass man ihr gesagt habe, die Sterne seien hier in diesem Hause gefangen.
Er lachte laut auf und schüttelte seine wilde Mähne. „Hier oben?“
„Aber irgendwo müssen sie doch sein!“
Seit einigen Nächten hatte sie keine Sterne mehr gesehen und auf ihr Fragen hatten die Dorfbewohner behauptet, die Sterne wären vom Himmelszelt gefallen und lägen gesammelt im Haus am Berg.
Der Mann schüttelte den Kopf. Sie habe die Sterne vermutlich wegen der sich hartnäckig haltenden Wolken nicht gesehen, und die Sterne wären bestimmt noch dort, wo sie hingehörten, nämlich am Himmel.
Obwohl seine Worte freundlich waren, war Julia nicht überzeugt. In ihren Augen spiegelte sich ihr Zweifel und so bot der Mann ihr an, sie ins Haus zu lassen, damit sie sich selbst vergewissern könne. Er griff nach einem Schlüsselbund an seinem Gürtel und ging zum Haustor. Mit einem klackenden Geräusch drehte sich der Schlüssel im Schloss. Als die Tür aufsprang, war nichts als Dunkelheit zu sehen. Der Mann ging hinein und zündete den Docht der Petroleumlampe an, die auf dem kleinen Tisch stand. Das schwache Licht füllte nur die Mitte des Raumes und in den Ecken machten sich riesige Schatten breit. Julia konnte ein paar Sessel und die Feuerstelle, in der noch ein paar Glutstücke lagen, erkennen.
Nun kam sie sich töricht vor, wie dumm sie doch gewesen war zu glauben, was die Dorfbewohner gesagt hatten. Beschämt senkte sie ihren Blick und sah die ausgestreckte Hand des Mannes, der ihr anbot, sie nach unten zu begleiten.
Als sie gemeinsam zur Treppe kamen, schaute sie die Stiegen hinunter und
all das, was sie noch vor Minuten zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden. Die Stufen waren aus festem Stein, so wie vorher, als sie sie heraufgekommen war. Die neben der Treppe aufragenden Büsche hatten ihre Bedrohlichkeit verloren, nur noch der starke Wind fuhr jetzt hinein und wirbelte die Äste durcheinander. Dicke Regentropfen klatschten Julia ins Gesicht, wo sie sich mit den Tränen der Enttäuschung mischten. Schnell fuhr Julia mit ihrem Handrücken darüber und wischte sie weg.
Ihr Begleiter wandte sich ihr zu und sagte: „Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Jonathan und ich lebe seit Langem hier heroben. Es kommt selten vor, dass sich jemand hierher verirrt, und ich habe mich, trotz der ungewöhnlichen Situation, sehr über ihren Besuch gefreut – auch wenn er nicht mir galt.“
Julia spürte wie eine leichte Röte ihre Wangen färbte. „Sehr gerne“, sagte sie, und erst als sie den Treppenfuß erreicht hatten, fügte sie hinzu: „Mein Name ist Julia“.

Sie setzte den Weg ins Dorf allein fort. Nun wies ihr das schwache Licht der Laternen den Weg. Von weitem hörte sie das Bellen eines Hundes. Nichts erinnerte mehr an das Gelächter der Menschen, das sie veranlasst hatte, sich auf die Suche zu machen. Morgen würde sie den Dorfbewohnern gegenüber treten und ihnen sagen, dass sie den Mut gehabt hatte, das Haus aufzusuchen, und dass auch sie jetzt wusste, wo die Sterne geblieben waren.

STERNENSPLITTER

Sternenhimmel
Unbeirrt folge ich meinen Weg
„to dream the impossible dream“
gehe Tag für Tag,
Schritt für Schritt
tue was zu tun ist
nehme an wie es kommt
im starken Glauben an mich
„to reach the unreachable star“

Du wolltest mir die Sterne vom Himmel holen
meinen Weg
von allen Hindernissen befreien
mich auf Händen tragen
ich habe mich darauf eingelassen
stehe nun mit aufgeschnittenen Füßen
in den Scherben dieser Sterne
sehe keinen Weg
in der Dunkelheit
um auch nur einen Schritt
weiter gehen