Meine
Mutter kam in den letzten Kriegsjahren zur Welt. Entstanden war sie in
einem der kurzen Kriegsurlaube, und als ihre eigene Mutter bemerkte, daß
sie mit meiner Mutter schwanger war, begann sie den Tag damit, vom Tisch
auf den Boden zu springen, und beendete ihn damit, schwere Kisten zu tragen.
Es half alles nichts. Meine Mutter ließ sich nicht davon abbringen,
auf die Welt zu kommen.
Als sie geboren wurde, wog sie kaum zwei Kilo und blieb auch ihre Kindheit
hindurch ein dürres, für Krankheiten anfälliges Kind. Mein
Großvater war noch im Krieg, als seine einzige Tochter geboren wurde.
Oft sprach die Großmutter von ihrem Mann und wie gut sie es haben
würden, wenn der Krieg endlich zu Ende wäre und er zu ihnen
zurückkehren könnte.
Eines Tages, sie war nun schon fünf Jahre alt, kam ihr Vater wirklich
zurück, doch das Leben der beiden verbesserte sich dadurch nicht.
Die einzige Veränderung, die die Anwesenheit des Vaters mit sich
brachte, war die, daß meine Mutter außer mit einer verzweifelten
Frau auch noch mit einem kranken Mann unter einem Dach leben mußte.
Viele Leiden hatte er vom Krieg mit nach Hause gebracht und manche von
ihnen hatten sich so in seinem Körper manifestiert, daß sie
nicht mehr heilbar waren. Er hatte geschwächte Organe, chronische
Entzündungen, Husten und Mala-riaanfälle. Oft wünschte
meine Mutter ihr Vater hätte sie in der frühkindlichen Illusion
von ihm be-lassen und wäre nie zurückgekommen oder hätte
sich zumindest bemüht, einem Vater ihrer Vor-stellungen ähnlicher
zu sein, doch irgendwann war es dafür zu spät. Die wichtigste
Erkenntnis, die meine Mutter von seinem Erscheinen nach vielen Jahren
gewonnen hatte, war die, daß sie kein Sohn war und das dies etwas
Schlechtes war.
Als ihr Vater im Alter von 48 Jahren starb, vergoß das nicht mehr
ganz so kleine, aber immer noch dürre Mädchen keine Träne.
Ihre Mutter weinte dafür für beide, doch nach den Tränenfluten
war bald alles wieder beim Alten. Sie waren wieder alleine unglücklich.
Meine Mutter nahm infolge die wieder gewonnene Einsamkeit zum Anlaß,
sich unsterblich in einen jungen Burschen zu verlieben, und sie beschloß,
ihn zu heiraten. Es wurde eine schmuck-lose Feier im kleinen Rahmen. Meine
Mutter war 19, als sie meinen Vater heiratete, und sie war noch immer
19, als meine Schwester zur Welt kam, und als ich endlich an die Reihe
kam, hatten sie sich schon so viele Kilometer auseinandergelebt, daß
sie kaum mehr miteinander sprachen. Trotzdem blieb die Ehe noch 15 Jahre
aufrecht. Seit ich mich erinnern kann, bestand unsere Familie nicht aus
Vater, Mutter Kind, sondern war eine Herde. Wir bildeten ein mittelgroßes
Sozialgefüge mit einem befreundeten Ehepaar und deren beiden Söhnen.
Wir waren nie zu viert, wir waren immer zu acht. Wir verbrachten alle
unsere Urlaube und Wochenenden gemeinsam. Unsere Eltern waren nie Hippies,
obwohl es fast ihre Zeit gewesen war. Sie waren Arbeiterkinder, die zu
einer Zeit, als die Hippies aufbrachen, die Strukturen aufzuweichen, zwar
im selben Alter, aber doch schon so eingekeilt waren in den Strukturen,
daß die Freiheit durch sie hindurchglitt. Man braucht viel Zeit
für Freiheit. Obwohl meine Mutter entgegen aller äußerer
Umstände im Grunde ihres Herzens ein wahrer Hippie war, vor allem
dann, wenn es um die freie Liebe ging.
Es wurde mir erst viel später bewußt, doch es gab Anzeichen,
früh schon. Eines dieser An-zeichen erkannte ich erst viel später,
als das, was sie waren. Als es geschah, war ich noch zu klein, um zu verstehen.
Eines Tages meiner Kindheit, ich kann mich noch sehr genau an diesen Tag
erinnern, passierte es. Wir Kinder waren alle im Garten spielen. Uns war
etwas langweilig und Rosi, meine Schwester besorgte wie so oft den Autoschlüssel
unserer Eltern, um etwas Musik zu hören und somit etwas Verbotenes
zu tun. Wir zwängten uns in den alten VW, der vor dem Eingang geparkt
war, und hörten heimlich Radio. Es war ein schöner Nachmittag
gewesen und ich vergaß meine sonstige Schüchternheit und faßte
Mut. Rosi, die Älteste von uns, begann lässig im Takt der Musik
mit ihrem Kopf zu wippen und die beiden Jungs machten es ihr nach, bis
alle drei sich ekstatisch zur Musik bewegten. Da wurde ich unvorsichtig.
Mitgetragen von der Stimmung begann ich ebenfalls übermütig
zu tanzen. Ich vergaß alles um mich, bis der Zeigerfinger meiner
Schwester plötzlich auf mich zielte. Sie lachte laut auf und alle
drehten sich nach mir um und feuerten mich spöttisch an weiterzumachen.
Es war schrecklich, und ich dachte im Erdboden zu versinken und spürte
wie meine Wangen glühten und doch versuchte ich möglichst ungerührt
auszusehen, obwohl meine Bewegungen sich jetzt anfühlten, wie wenn
ich aus Holz wäre, und mit jeder Sekunde immer lächerlicher
aussahen. Die beiden Jungs lachten und schlugen sich mit den Händen
prustend auf die Schenkeln, bis Rosi dem ganzen ein Ende bereitete. Ich
dachte, ich könnte mich nie wieder bei ihnen blicken lassen, würde
bis ans Ende meiner Tage verspottet werden, doch als wir beim Hineingehen
meine Mutter und den Vater der Jungs an die Hauswand gelehnt einander
küssend antrafen, verlief sich der Spott von selbst und ich war gerettet.
Den ganze Abend über war die Stimmung bedrückt, nur ich konnte
nichts anderes sehen, als daß sie mich gerettet hatte. Ich liebte
meine Mutter dafür über alle Maßen und gab ihr beim Schlafengehen
einen extra dicken Gutenachtkuß. Ich habe sie selten so geliebt
wie an diesem Tag.
Im Laufe der Jahre wurde es dann immer deutlicher und es erfüllte
mich immer weniger mit Freude, sie in flüchtigen Momenten mit anderen
Männern zu überraschen. Die Freunde meiner Mutter wechselten
nun rasch, und irgendwann kamen nur mehr Männer nach Hause, die sie
als Arbeitskollegen oder Freunde eines Bekannten vorstellte. Die Männer
waren immer sehr nett zu uns, doch unseren Vater bekamen wir immer weniger
zu Gesicht. Eine Zeit lang versuchte meine Mutter noch, mich überall
hin mitzunehmen. Sie stellte mich vielen Menschen vor und wollte, daß
ich mit ihren Bekannten und deren Kindern, soweit Kinder vorhanden waren,
Freundschaft schloß. Irgendwann wurde es ihr dann anscheinend zu
anstrengend, mich und meine Schwester in ihr Leben zu integrieren, und
die Männer wechselten in so rasantem Tempo, daß ich mich nicht
mehr auskannte, zu wem ich nun Onkel sagen mußte und wer nur ein
entfernter Bekannter war.
Dann kam der Tag, ich denke ich war so um die 12 Jahre alt, an dem sie
aus unserer Wohnung auszog. Der Kontakt blieb eine Zeit lang mit einigen
Anrufen oder ein bis zwei Treffen im Monat aufrecht. Nach einiger Zeit
rief sie nicht mehr an, sondern schickte nur noch Karten oder kurze Briefe.
Irgendwann kamen auch keine Karten mehr und sie verschwand aus unserem
Leben. Seit damals habe ich sie nie wieder gesehen.
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